Der Versuch, die "Lindenstraße" mittels DVDs neu zu durchleben. Der Versuch, möglichst alles zu vergessen und sie NEU zu sehen (fast nicht durchführbar). Also möglichst wenig Lindenstraße-Vergleiche mit später (wird auch nicht durchzuhalten sein).
Ich bin wie schon andernorts berichtet seit der 1. Folge Zuseher und habe bis auf die Folgen vom Wechsel Silke Wülfing/Stefanie Mühle (das waren Theaterprobenfolgen für Orphee gerade) bis ca. 130 (Grund: "Protest" gegen den Rollentausch der Chris) jede Woche Lindenstraße geschaut, vielleicht bis auf zwei, drei Ausnahmen. "Schuld" waren mein Germanistikstudium und die nicht absehbaren Folgen davon. Für ein Proseminar hatte ich Thomas Manns "Zauberberg" zu lesen. Dann lief im Fernsehen die dreiteilige Verfilmung von Hans W. Geißendörfer, die mich als nunmehriger Kenner des Originalstoffes (ich bin sonst sehr skeptisch bei Literaturverfilmungen) derart faszinierte, dass ich mir dachte: Wenn DER Mann eine Serie macht, DIE will ich sehen.
Das erste was man nach dem Vorspann sieht, sind die Hände von Egon Kling. Und was man in Zeiten von Daily Soaps und Telenovelas auch ziemlich schnell wahrnimmt, ist die Wertlegung auf Zwischentöne in der Personenführung. Das zeigt sich gleich, wenn sich Elfie von Egon Kling verabschiedet, mit besonderem Bemühen um Höflichkeit. Sofort ihre ganz eigene Farbe bekommt Else Kling, neugierig und zugleich moralistisch. Gewühnungsbedürftig waren die drei Handlungsstränge. Das brauchte ein paar Folgen, bis man da reinfand. (Das weiß ich noch wie heute.) Die Hausbewohner im Stiegenhaus mit einzelnen Kommentaren - das beließ den Zuseher noch etwas im Nebulosen. Wer ist das jetzt? Ist das wichtig, was der sagt? Bemühen um wirkliche Alltäglichkeit. Nossek sieht die Umzugskartons im Aufzug, macht aber überhaupt keine Anstalten, Elfie zu helfen - hat nur Augen für die junge Frau, im Hinblick auf einen möglichen Aufriß. Elfie bleibt als Neuling in diesem Haus höflich ihm gegenüber. Klausi, noch nicht "mein Hase" von Helga genannt, hat das Buch "Franz der Drache" in der Hand. Gibt man diesen Titel bei google ein, kommt kein 100 % Treffer. Ist das ein Originalrequisit für die 1. Folge? Sentimental stimmt das Musizieren der Familie Beimer. Hinten im Regal stehen Klassik LPs. (Bei Dr. Dressler stehen sicher heute noch Klassik LPs im Regal.) Hans Beimer fragt seinen Sohn "Was flüsterst du ... mit Marion, Benny?" - aber nur mit Namensnennung, weil der Zuseher die Namen kennen lernen soll, wie immer bei Neueinführungen von Figuren im Fernsehen. Und dann der sehr verzögerte Cliffhanger - es wird fast alles schneller werden im Lauf der Jahre. Der Nachspann war damals auch gewöhnungsbedürftig, als erste wird Silke Wülfing als Chris Barnsteg genannt, das liest man und denkt: Ja wer war das denn jetzt? (Dass es die war, die am Eck neben der Kling-Tür so wunderbar aufreizend destruktiv herumstand, der perfekte Kontrapunkt zur "Else Kling-Ordnung", durchschauten wohl die wenigsten sofort.)
Ganz wichtig für mich als Musiker: Die Musik von Jürgen Knieper. Gleich in der ersten Folge hört man prägnante Untermalungen (Else Kling) und markante Themen zu einzelnen Figuren.
Seltsames Gefühl: Altvertrautes und doch ein biißchen Neues (wenn man genau hinschaut). Vertrautheit und Distanz. Es ist wie ein Nachhausekommen in eine alte Wohnung, ein vertrautes Haus, wie ein persönlicher Erinnerungsfilm. Die Lindenstraße ist mehr als Fernsehen, ist längst ein Teil des Lebens (geworden). Die Kronmayrs kennt man - von vor 20 Jahren. Irgendwie so wie man Leute von vor 20 Jahren kennt ...
Fortsetzung folgt ...